Sonntag, 5. Juni 2011

Lass uns Freunde bleiben...!


„Männer und Frauen können keine Freunde sein, der Sex kommt ihnen immer dazwischen.“ So lautet die Schlüsselbotschaft des Films „Harry und Sally“, einem Klassiker über das Thema Liebe, Freundschaft und dem, was sich irgendwo dazwischen befindet: Der Freundschaft zwischen Mann und Frau. Gegengeschlechtliche Freundschaften gelten auch 20 Jahre nach dem Filmstart von „Harry und Sally“ noch als Sonderform zwischenmenschlicher Beziehungen, obgleich sie eigentlich recht verbreitet sind – etwa 40 % aller befragten Männer und 30 % aller befragten Frauen geben in diversen Studien an, über einen gegengeschlechtlichen Freund zu verfügen, welcher kein Liebespartner ist. Tendenz: steigend. Denn das Lebensumfeld beider Geschlechter überschneidet sich zunehmend: Ob in der Arbeit, der Schule, der Uni oder in studentischen Wohngemeinschaften – es gibt wohl kaum einen Ort, an dem Männer und Frauen einander nicht begegnen könnten. Kein Wunder, dass dabei auch Beziehungen entstehen, die zwar freundschaftlicher Natur sind, aber nicht unmittelbar zu einer romantischen Beziehung führen.
Doch obwohl gegengeschlechtliche Freundschaften in unserer Gesellschaft relativ häufig vertreten sind, genießt diese Beziehungsform keinen eigenständigen Status, sondern weißt einen nach wie vor ungeklärten Stellenwert zwischen den beiden Reinformen sozialer Beziehungen auf – der gleichgeschlechtlichen Freundschaft als Prototyp der Freundschaft; und der gegengeschlechtlichen romantischen Beziehung als der typischen Partnerschaft. Die gegengeschlechtliche Freundschaft wirkt dabei wie eine Zwischenstufe auf dem Weg zur Paarbeziehung – gleich einer unvollständigen Beziehungsform, der man mit der verlegenen Aussage, man sei einfach „nur“ Freunde, keinen vollwertigen Status gewährt. Doch handelt es sich bei gegengeschlechtlichen Freundschaften tatsächlich nur um Ersatzlösungen? Um hoffnungsvolle „Vielleicht-wird-ja-doch-noch-mehr-daraus“-Konstellationen zwischen männlichen und weiblichen Erdenbürgern? Oder existieren auch eigenständige Formen gegengeschlechtlicher Freundschaften, die sich fern jeglicher Romantik abspielen und rein freundschaftlicher Natur sind? Und wenn ja, wie unterscheiden sich diese Beziehungsformen (positiv oder negativ) von allen anderen zwischenmenschlichen Bindungen?

Die Art und Weise, wie wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten, wird zu einem großen Teil von deren Geschlecht beeinflusst. So unterscheiden sich die Erwartungen, die wir an Personen des anderen Geschlechts stellen, meist von den Erwartungen an gleichgeschlechtliche Personen. Da wir mit Menschen gleichen Geschlechts in der Regel eine ähnliche geschlechtsspezifische Sozialisation teilen, können wir deren Handlungen besser voraussehen und nachvollziehen. Zudem teilen wir mit Freunden gleichen Geschlechts ähnliche Interessen und vergleichbare geschlechtsspezifische Erlebnisse, was die Kommunikation und den Umgang miteinander zusätzlich erleichtert. Sich mit den Ansichten und Handlungsweisen des anderen Geschlechts zu identifizieren, fällt vielen Menschen vergleichsweise schwerer. Dass Männer und Frauen ihr Umfeld unterschiedlich wahrnehmen, ist kein Geheimnis. Denn während Frauen in Gesprächen vermehrt nach emotionalen Signalen suchen, achten Männer stärker auf sächliche Hinweise, die ihren Gesprächen einen greifbaren Rahmen verleihen. Da unterschiedliche Sicht- und Lebensweisen wiederum ein höheres Konfliktpotential evozieren, werden gegengeschlechtliche Freundschaften in einigen Umfragen auch als instabiler und insgesamt als weniger zufriedenstellend beschrieben.
Beispiel:

Szene 1
Frau: Mein Mann ist ein unheimlich schlechter Beifahrer. Ständig behauptet er, mein Fahrstil sei zu ruppig.
Weibliche Freundin: Das kenn‘ ich. Mein Mann beschwert sich auch ständig über meinen Fahrstil. Deswegen lass ich, wenn möglich, auch immer ihn hinter das Steuer. So kommen wir viel entspannter ans Ziel.

Szene 2
Frau: Mein Mann ist ein unheimlich schlechter Beifahrer. Ständig behauptet er, mein Fahrstil sei zu ruppig.
Männlicher Freund: Hmmm. Ein ruppiger Fahrstil kann viele Ursachen haben. Vielleicht solltest du mal das Getriebe überprüfen und auch beim Schalten vermehrt auf den Drehzahlmesser achten!

Sind gegengeschlechtliche Freundschaften deshalb generell zum Scheitern verurteilt? Keineswegs. Denn fast alle zu diesem Thema durchgeführten Studien heben auch die positiven Aspekte der gegengeschlechtlichen Freundschaft hervor, die dieser Beziehungsform durchaus eine eigene Sinnhaftigkeit verleihen. So bezeichnen Männer ihre Freundschaften zu Frauen als emotionaler und offener als ihre Beziehungen zu anderen Männern. Während Männerfreundschaften stärker von männlichen Verhaltensstereotypen und stetigem Konkurrenzdenken geprägt sind, können Männer in gegengeschlechtlichen Freundschaften vertrauensvoll auch mal eigene Schwächen zeigen und sich so auf tiefere und emotionalere Gespräche einlassen. Auch viele Frauen bezeichnen ihre Freundschaften zu Männern als ehrlicher, verlässlicher und als weniger von Neid geprägt. Zudem sind sich beide Geschlechter darin einig, dass sie durch gegengeschlechtliche Freundschaften die Möglichkeit erhalten, mit mehr als nur einer Person des anderen Geschlechts vertraut zu sein. Dabei können sich beide Freunde optimal ergänzen und von den jeweils geschlechtsspezifischen Stärken des anderen profitieren. So können Frauen ihre männlichen Freunde beispielsweise in Stilfragen beraten und Männer ihre weiblichen Freunde als Heimwerker unterstützen. Zudem erhalten beide Freunde die Möglichkeit, Beziehungsratschläge entgegen zu nehmen und sich so positiv für den eigenen Partner zu verändern. Diese, zum Teil völlig neue Sichtweise auf das andere Geschlecht, kann die Kommunikation und das Miteinander zwischen den Geschlechtern (auch in Paarbeziehungen) nachhaltig verbessern.

Eine vorherrschende Schwierigkeit gegengeschlechtlicher Freundschaften ist jedoch die stetige Abgrenzung zur romantischen Beziehung. Denn bei Beziehungen zwischen Männern und Frauen taucht die Frage „Freundschaft oder Liebe?“ zwangsläufig immer wieder auf – was bedeutet, dass in gegengeschlechtliche Freundschaften zunächst einmal ein neues Beziehungsschema entwickelt und der Umgang mit möglichen sexuellen Spannungen erlernt werden muss. Aus diesem Grund herrscht zwischen gegengeschlechtlichen Freunden z.B. auch ein geringeres Maß an Zärtlichkeit. Um die A-Sexualität der gemeinsamen Freundschaft zu verdeutlichen, gehen Begrüßungen und Verabschiedungen deshalb seltener mit einem Kuss auf die Wange, sondern häufiger mit einer Umarmung einher. 
Doch woher weiß ich, ob der andere nicht vielleicht doch Gefühle für mich hegt oder wann die Grenze zur romantischen Beziehung überschritten wird? Eine Grenze, die in der Tat nicht immer ganz trennscharf ist, denn sowohl in der Liebe als auch in Freundschaften hegt man gewisse Gefühle füreinander. So bringt man nicht nur seinem Partner, sondern auch seinen Freunden ein gewisses Maß an Zuneigung, Wertschätzung und Vertrauen entgegen. Was jedoch die Liebe von der Freundschaft unterscheidet, sind die Exklusivität der Beziehung, körperliche Empfindungen und sexuelles Verlangen. Vereinfacht betrachtet, wird der Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft lediglich anhand zweier Variablen deutlich: Der Exklusivität, d.h. der Einzigartigkeit der jeweiligen Beziehung – und der Leidenschaft, die man für einen anderen Menschen verspürt (s. Abbildung). Leidenschaft umschreibt dabei die ersten Verliebtheitsgefühle und das Bedürfnis, dem anderen Nah sein zu wollen. Exklusive Beziehungen sind wiederum Beziehungsformen, in denen man bestimmte Gefühle, Handlungsweisen und Erfahrungen mit nur einem Menschen teilt. Dieser genießt dabei als Partner oder Freund bestimmte Privilegien, die nur ihm zuteilwerden. Diese Exklusivität gibt beiden Partnern ein Gefühl von Sicherheit und befriedigt ihr Bedürfnis nach tiefer Verbundenheit und hoher Vertrautheit.

So zeichnen sich z.B. Freundschaften durch ein niedriges Maß an Leidenschaft aus, wobei man zwar viele Freunde (niedrige Exklusivität), aber meist nur einen oder sehr wenige „beste Freunde“ hat (hohe Exklusivität). Liebesbeziehungen werden im Vergleich zur Freundschaft durch ein hohes Maß an Leidenschaft geprägt, wobei die Exklusivität der Beziehung die festen, (romantischen) Partnerschaften von den flüchtigen, rein sexuellen Liebesbeziehungen unterscheidet. Wenn ein Paar also nach einer Trennung weiterhin befreundet bleiben möchte, muss es seine leidenschaftlichen Empfindungen füreinander auf ein weitaus niedrigeres Niveau reduzieren. An den Verlust der Leidenschaft können sich die meisten Paare jedoch nur sehr schwer gewöhnen, da das Bedürfnis nach Nähe und Intimität oftmals noch bestehen bleibt, ohne jedoch erfüllt werden zu dürfen. Aus diesem Grund entwickeln sich Freundschaften nach einer Trennung in der Regel eher ungünstig. Im umgekehrten Fall, wenn also aus einer Freundschaft eine Partnerbeziehung entsteht, erhöht sich der Anteil an empfundener Leidenschaft und die Beziehung erhält einen exklusiveren Status. So ist Eifersucht beispielsweise ein Indiz dafür, dass man der Beziehung bereits eine gewisse Exklusivität zuschreibt. Im günstigen Fall, wenn sich beide Freunde nach mehr Nähe und Zärtlichkeit sehnen, also sowohl die Leidenschaft als auch das Bedürfnis nach Exklusivität stetig zunimmt, geht aus einer Freundschaft eine romantische Liebesbeziehung hervor. 
Diese Entwicklung kann deshalb als günstig bezeichnet werden, da Beziehungen, die sich aus einer Freundschaft entwickeln, laut einer Studie der Universität Bochum, oftmals stabiler sind als andere. Da man den Partner bereits vor der Beziehung in zahlreichen Lebenslagen und Facetten erlebte, fällt der gegenseitige Erwartungsdruck wesentlich geringer aus, was auch das Konfliktpotential innerhalb der Partnerschaft reduziert. Wenn der ehemals beste Freund jedoch plötzlich zur neuen Liebe wird, muss sich auch die intime Bindung langsam aufbauen und ein gutes Stück Leidenschaft hinzukommen. Denn wenn nicht ausreichend Leidenschaft vorhanden ist, besteht die Gefahr, dass die Beziehung zu freundschaftlich verläuft und die Erotik erlischt.

Gegengeschlechtliche Freundschaften sind bereits von Natur aus stärker dafür prädisponiert, eine leidenschaftliche Komponente zu entwickeln. So verspüren mindestens 25 % aller gegengeschlechtlichen Freunde – trotz der asexuellen Basis ihrer Freundschaft - eine gewisse erotische Anspannung und die Hoffnung, dass aus der Freundschaft vielleicht doch noch eine Liebesbeziehung entstehen könnte. Dabei sind es vor allem Männer, die von einer höheren sexuellen Anziehung berichten und ihre Freundin häufiger als attraktiv beschreiben. In diesem Sinne flirten sie auch stärker mit ihren platonischen Freundinnen und hegen insgesamt ein stärkeres Interesse an einer romantischen Entwicklung der Beziehung. Dennoch werden nicht aus allen gegengeschlechtlichen Freundschaften automatisch Liebesbeziehungen. So dominiert das freundschaftliche Empfinden (sich dem anderen verbunden fühlen) - gegenüber der romantischen/körperlichen Anziehung - in mindestens 75 % aller gegengeschlechtlichen Freundschaften. Was also unterscheidet jene Freundschaften, die zu einer Partnerschaft führen, von solchen, die rein platonischer Natur sind?
Ob aus einer Freundschaft tatsächlich eine Liebesbeziehung entsteht, hängt meist vom sozialen Kontext ab, in dem sich die Freundschaft abspielt. Befindet sich z.B. mindestens einer der Freunde in einer festen und glücklichen Beziehung, fällt der Anteil an gegenseitiger Anziehung wesentlich geringer aus. Auch mit zunehmender Dauer der Freundschaft, nimmt die sexuelle Komponente einen immer geringeren Stellenwert ein. Mit anderen Worten: Im frühen Stadium der Freundschaft, wenn die gegenseitigen Gefühle nach wie vor unklar sind, entwickelt sich aus der freundschaftlichen Anziehung mit höherer Wahrscheinlichkeit eine leidenschaftliche Beziehung, als wenn die Freundschaft bereits viele Jahre in ihrer jetzigen (platonischen) Form besteht. Auch in Wohngemeinschaften herrscht in der Regel ein verstärkt asexueller Umgang. Denn für einen Menschen, dessen Haare man in regelmäßigem Abstand aus dem Abfluss fischen muss oder dessen Essensreste im gemeinsamen Kühlschrank vergammeln, Gefühle zu entwickeln, fällt in der Regel schwer. Hingegen ist die Wahrscheinlichkeit gegenseitiger sexueller Anziehung immer dann erhöht, wenn man in der Vergangenheit bereits romantische Gefühle füreinander geteilt hat. Denn in diesem Fall wurde die gemeinsame Geschichte bereits durch Erfahrungen geprägt, die über das rein freundschaftliche hinausgehen, was die Hemmschwelle für eine gegenseitige Annäherung reduziert.

Gegengeschlechtliche Freundschaften: eine fortlaufende Gradwanderung zwischen romantischen Liebesbeziehungen und platonischen Freundschaften. Sie sind das verheilte Überbleibsel einer ehemals leidenschaftlichen Beziehung, eine seit Jahren bestehende Vertrautheit zweier Menschen, oder eben der verhaltene Beginn einer wunderbaren Liebesbeziehung. Wie bei Harry und Sally. Denn diese gestehen sich - wie war es auch anders zu erwarten - nach turbulenten Höhen und Tiefen ihrer Beziehung, kurz vor dem Ende des Films ihre Liebe. Eine Liebeskomödie setzt schließlich ein Happy End voraus. Doch hätten Harry und Sally zum Ende des Films ebenso erkennen können, dass sie rein freundschaftliche Gefühle füreinander teilen. Was ein ebenso gutes Ende ergeben hätte. Vielleicht nicht unbedingt für den Zuschauer. Aber für alle Harrys und Sallys der wirklichen Welt.



Mittwoch, 2. März 2011

So fern und doch so nah?


Die große Liebe findet man nur einmal, heißt es. Wenn die große Liebe aber mehrere hundert Kilometer vom eigenen Wohnort entfernt lebt, dann hat man ein Problem. Ein Problem, dass man in Deutschland mit mehr als vier Millionen Paaren teilt. Jede siebte Partnerschaft wird mittlerweile als Fernbeziehung geführt, wobei der Anteil an jungen Akademikern besonders hoch ist: Jeder Vierte von ihnen führt – zumindest über einige Jahre – eine Wochenendbeziehung. Denn im Zeitalter der Globalisierung werden Flexibilität und Mobilität zur neuen Lebensform. Und da sich beide Partner nach den neuen Gesetzen des Arbeitsmarktes richten müssen, steigt der Anteil an Fernbeziehungen jährlich. Dabei ist der Umstand, in einer festen Partnerschaft ohne gemeinsamen Alltag zu leben, für die meisten der betroffenen Paare äußerst unbefriedigend. So sind es meist berufliche oder ökonomische Bedingungen, die zu getrennten Haushalten führten - eine freiwillige Fernbeziehung gehen die wenigsten Paare ein. Doch sind Fernbeziehungen tatsächlich immer schlecht für eine Partnerschaft? Und welche Auswirkungen hat die multilokale Form der Partnerschaft auf das Erleben einer Beziehung?

Ganz offensichtlich gehen mit Fernbeziehungen eine Reihe an Belastungen einher, die sowohl emotionaler als auch finanzieller und organisatorischer Natur sein können. So müssen gewisse Arrangements getroffen werden, die – trotz der Distanz zwischen den jeweiligen Wohnorten – ein regelmäßiges Wiedersehen ermöglichen. Dabei pendeln die meisten Paare im Wechsel, insbesondere in Beziehungen, in denen einer der Partner im Ausland lebt. Je weiter die Wohnorte voneinander entfernt liegen, desto größer sind auch die zeitlichen Abstände zwischen den Besuchen. Laut einer Umfrage pendeln die meisten Paare jedoch im zweiwöchigen Wechsel, wobei sich die Pendelmobilität aus beruflichen Gründen stark auf das Wochenende konzentriert. Die regelmäßigen Fahrten belasten dabei nicht nur den Geldbeutel. Die Odyssee zum geliebten Partner nimmt auch sehr viel Zeit und Geduld in Anspruch.
Neben aufwendigen Fernreisen, werden im Zusammenhang mit Fernbeziehungen auch negative Auswirkungen auf die eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten geschildert. So kann die Sehnsucht nach dem Partner beinah depressive Symptome annehmen: Unkonzentriertheit, Traurigkeit und Weinattacken sind die leidlichen Folgen. Zur emotionalen Belastung kommen auch Sorgen um die Partnerschaft, wobei sich insbesondere die Furcht vor Entfremdung und die Entwicklung getrennter Lebenswelten als problematisch darstellt. Denn fehlt es Paaren an gemeinsamen Erfahrungen, können sie den gemeinsamen Lebensweg leicht aus den Augen verlieren. Selbstverständlich wirkt sich die Liebe auf Distanz auch auf die Familienplanung aus. So sind die meisten Paare in Fernbeziehungen kinderlos. Fernbeziehungen belasten demnach nicht nur die betroffenen Individuen, sondern auch das gesamte politische und gesellschaftliche System. Vielleicht ein Appell an unser Wirtschaftssystem, durch eine familienfreundlichere Mitarbeiterpolitik künftig potentielle Kunden zu sichern, die andernfalls niemals geboren würden?  

Doch trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten, sind Fernbeziehungen überraschenderweise nicht generell nachteilig für die Qualität einer Partnerschaft. Zu diesem Ergebnis gelangen eine Reihe an psychologischen Untersuchungen über Fern- und Nahbeziehungen. So gibt etwa ein Drittel aller in einer Fernbeziehung lebenden Personen an, dass ihnen diese Lebensform ein hohes Maß an Autonomie gewährt. Die Befürchtung, in Nahbeziehungen wieder verstärkt Rücksicht nehmen zu müssen und dabei die eigene Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu verlieren, fungiert als ein häufig genanntes Argument für bewusst getrennte Wohnorte. Doch auch in unfreiwillig geführten Fernbeziehungen lassen sich Vorzüge finden, die von den Beteiligten selbst eventuell gar nicht bewusst wahrgenommen werden und nur durch einen direkten Vergleich mit Nahbeziehungen hervorstechen. So zeigen wissenschaftliche Studien, dass der begrenzte Kontakt mit dem eignen Partner zu einer stärkeren Idealisierung des Partners und der Beziehung führen kann, aber auch zu einem höheren Ausmaß an Liebe und Partnerschaftszufriedenheit. Darüber hinaus deuten psychologische Untersuchungen daraufhin, dass Getrenntlebende auch zufriedener mit ihrem Sexualleben sind und insbesondere der Austausch von Zärtlichkeit einen höheren Stellenwert einnimmt als bei Nahbeziehungen. Dies lässt sich eventuell dadurch begründen, dass das sexuelle Verlangen durch wochenlange Abstinenz bei getrennt lebenden Paaren höher ausgeprägt ist als bei Paaren mit gemeinsamem Wohnsitz. Die Intimität wird folglich intensiver verspürt und auch bewusster wahrgenommen.
Doch nicht nur der körperliche, auch der verbale Austausch kommt bei Fernbeziehungen keineswegs zu kurz. Im Gegenteil: So weisen die Ergebnisse diverser Fragebogenstudien darauf hin, dass viele Ehepaare im Schnitt nur 7 bis 14 Minuten täglich miteinander sprechen, während Fernliebende von einer sehr lebendigen Kommunikation berichten – schließlich haben sie sich durch die unterschiedlichen Erfahrungen und getrennten Alltagserlebnisse viel zu erzählen. Von Vorteil sind in diesem Zusammenhang auch die neuen Technologien, die einen Mangel an „face-to-face“-Kommunikation durch andere Formen der Kommunikation (Skypen, Chatten, Telefonieren) kompensieren können. Fehlende gemeinsame Gespräche sind wiederum einer der häufigsten Trennungsgründe von zusammenlebenden Paaren. Zudem ergeben qualitative Umfragen, dass in Deutschland selbst junge Paare relativ selten miteinander ausgehen. Der Trend des Couchwärmens findet sich in besonderem Maße bei Paaren, die sich eine Wohnung teilen, während Fernliebende die regelmäßigen Besuche gerne dazu nutzen, dem Partner die coolen Locations der eigenen Stadt zu zeigen. Dies bedeutet, dass getrennt wohnende Paare zwar insgesamt weniger Zeit miteinander verbringen, dass diese Zeit aber effektiver für gemeinsame Unternehmungen genutzt wird.
Das mit einer Fernbeziehung einhergehende, positive Partnerschaftserleben kann natürlich auch auf den Umstand zurückgeführt werden, dass Getrenntwohnende vor allem die Wochenenden miteinander verbringen und in der gemeinsamen Zeit daher weniger Alltagsstress erleben. So zeigte eine Studie zur Partnerschaftszufriedenheit, dass Beziehungskonflikte werktags häufiger auftreten als an den Wochenenden, da insbesondere der Berufs- und Alltagsstress mit negativen Interaktionssequenzen korreliert. Dementsprechend verstärkt der partnerschaftliche Alltag entscheidend die Entstehungs- und aufrechterhaltenden Bedingungen einer negativen partnerschaftlichen Dyade. Dies impliziert ein Zusammenbrechen positiver Interaktionen - mit der Folge, dass ein wechselseitiges dysfunktionales Verhalten in Häufigkeit und Intensität zunimmt. Dadurch etabliert sich wiederum ein Teufelskreis, in dem gegenseitige positive Verstärkung zunehmend ausbleibt und durch negative Verhaltensexzesse ersetzt wird. Dementsprechend unterscheiden sich Nah- und Fernbeziehungen in den Stressoren, welche die jeweiligen Partner in ihren Beziehungen wahrnehmen und empfinden. Während Personen, die eine Fernbeziehung führen, am stärksten unter der Distanz zum Partner leiden, sehen Paare in Nahbeziehungen ihre Partnerschaft durch Beziehungskonflikte, Streitereien, langweilige Routine und Meinungsverschiedenheiten gefährdet.

Doch trotz der jeweiligen Vorteile, die mit einer Fernbeziehung einhergehen, sehen die meisten Paare ihre derzeitige Lebensform als temporären Zustand an, der auf absehbare Zeit - meist innerhalb der nächsten zwei Jahre - in eine gemeinsame Wohngemeinschaft führen soll. Schließlich fungiert eine gemeinsame Wohngrundlage als Voraussetzung für eine zukunftsorientierte Beziehung, in der auch Eigenheime und Kinder eine Rolle spielen können. In vielen Fällen wird die provisorische Lebensform jedoch länger als beabsichtigt fortgeführt, meist aufgrund organisatorischer, finanzieller oder beruflicher Gründe. Für die Zeit, in der die Fernbeziehung noch aktuell ist, bietet sich Paaren daher die Gelegenheit, die Vorteile ihrer Fernliebe noch einmal voll auszukosten. Sollten Kummer und Sehnsucht dann doch einmal überhand nehmen, stellt eine amerikanische Homepage eine Reihe an konstruktiven Tipps zur Verfügung, die dabei helfen, eine Trennungszeit sinnvoll zu überbrücken (www.longdistancecouples.com) . Eine kleine Auswahl der Vorschläge soll an dieser Stelle aufgeführt werden:
1.       Notiere dir jeden Abend 10 Eigenschaften, die du an deinem Partner schätzt. Am Ende der Woche schickst du ihm diese Liste in Form einer romantischen Karte.
2.       Kaufe deinem Partner eine Schachtel Pralinen. Unter jede Praline legst du einen Zettel mit einer persönlichen Botschaft.
3.       Verabrede dich mit deinem Partner zu virtuellen Dates. Die Palette gemeinsamer Online-Aktivitäten reicht von Konzertveranstaltungen über Museumsbesuche bis hin zu erotischen Chatdialogen.
4.       Fertige aus einem gemeinsamen Bild von euch ein Puzzle an. Schicke deinem Partner mit jedem Brief einige Puzzleteile.
5.       Erstellt eine gemeinsame Homepage und aktualisiert sie regelmäßig mit kleinen Videos, Fotos und Liebesbotschaften.

Viel Spaß beim Ausprobieren!



Mittwoch, 9. Februar 2011

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile


„Liebe ist der Entschluss, das Ganze eines Menschen zu bejahen, die Einzelheiten mögen sein, wie sie wollen“, so die weisen Worte des deutschen Schriftstellers Otto Flake (1880-1963). Mit anderen Worten: Ich liebe meinen Partner, obwohl er *‘#҉҂¥! Es gibt wohl keinen Menschen in fester Partnerschaft, den nicht die eine oder andere Marotte seines Geliebten oder seiner Geliebten stört. Diese winzigen Kleinigkeiten, die man anfangs noch niedlich fand und die irgendwann nur noch nervig sind. Das Schlurfen des Kaffees am Frühstückstisch, das Singen unter der Dusche, die Löcher in den Socken.. Egal. Die Hauptsache ist, dass man sich trotz aller Ecken und Kanten liebt. Was aber, wenn uns diese Kleinigkeiten in der Öffentlichkeit peinlich sind? Oder das Verhalten des Partners unseren moralischen Ansichten widerspricht? Anders gefragt: Sollte und kann man tatsächlich alles an seinem Partner akzeptieren?
Eine Liebes- und Lebenspartnerschaft unterscheidet sich von anderen Beziehungen (zwischen Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn) durch eine stärkere Intimität und Vertrautheit, eine höhere Intensität an Emotionen, der Identifikation mit dem Partner, dem Vorhandensein einer gemeinsamen Lebensdeutung und -gestaltung sowie einer Vielfalt an gemeinsamen Tätigkeiten und gegenseitigen Abhängigkeiten. Ein Partner an unserer Seite ist demnach das höchste Maß an emotionaler, leidenschaftlicher, physischer und lebensbeeinflussender Zweisamkeit, das wir erreichen können. Unser Partner ergänzt uns. Er spiegelt uns wider. Er bestimmt unser künftiges Leben und repräsentiert uns als Paar, auch wenn wir selbst gar nicht anwesend sind. Demnach übt eine feste Partnerschaft enormen Einfluss auf die Dynamik unserer sozialen Beziehungen und auf unseren künftigen sozialen Status aus. Angesichts dieser entscheidenden Auswirkungen auf unser soziales Leben, erscheint es logisch, dass sich die Suche nach dem „richtigen“ Lebensgefährten als schwierig erweist. So sollte bei Paaren in jedem Fall die „Chemie stimmen“, man sollte „zueinander passen“, sich „gegenseitig anziehend finden“ - entsprechend den Elementen unseres ersten Physikbaukastens oder der Suche nach dem passenden Schlüssel für ein seltenes Schloss. 
Selbst wissenschaftliche Untersuchungen machen deutlich, dass Partnerschaften, die durch ähnliche Charaktereigenschaften, Überzeugungen und Lebensführungen geprägt sind, von beiden Parteien positiver bewertet werden. Dementsprechend fällt es Paaren nachweislich leichter, einander zu akzeptieren, wenn sich beide Partner in ihrer Werthaltung recht ähnlich sind. So mögen unterschiedliche Einstellungen und Ansichten zu Beginn einer Beziehung noch reizvoll sein, da Eigenschaften bewundert werden, die man selbst nicht besitzt, doch erschweren jene Unterschiede zunehmend das Zusammenleben. Meist vergeht erst einige Zeit gemeinsamen Lebens, ehe sich Differenzen in den Handlungsweisen und Wertauffassungen negativ auf das Befinden der Partner auswirken; in besonderem Maße dann, wenn kritische Ereignisse des beruflichen oder privaten Lebens zusätzliche Belastungen implizieren. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Ähnlichkeiten zwischen Partnern in dieser Beziehungsphase von Vorteil sind, da sie die Wahrscheinlichkeit von Enttäuschungen und Missverständnissen verringern und das Auftreten von dauerhaften Konflikten und Streitereien reduzieren. Gleichzeitig führen sie dazu, dass sich beide Partner in dem, was sie als wichtig und wertvoll erachten, häufiger bestätigt und abgesichert fühlen und dadurch insgesamt mehr erfreuliche Erfahrungen miteinander teilen können. In diesem Zusammenhang zeigte sich in einer Studie über die Qualität von Partnerschaften, dass ähnliche Werthaltungen umso wichtiger werden, je länger eine Beziehung besteht. Denn hat man sich einmal für einen gemeinsamen Weg entschieden und gegenseitig Vertrauen gefasst, tritt verstärkt das Bedürfnis in den Vordergrund, dass die eigene persönliche Eigenart mit allen Stärken und Schwächen durch den Partner bestätigt wird.
Und so stolpern viele Menschen von Beziehung zu Beziehung, auf der Suche nach dem perfekten Partner. Dem Partner, der all ihren Erwartungen gerecht wird und dessen Erwartungen sie erfüllen. Dabei ist den wenigsten bewusst, dass in einer idealen Partnerschaft nicht der Partner ideal ist. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, zu lernen, mit den jeweiligen Unterschieden umzugehen und auch die Schwächen des Anderen zu akzeptieren. Wer nämlich Partnerschaft als reines Schicksalspiel interpretiert, wird auch nicht die Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten einer Beziehung wahrnehmen. Denn Partnerwahl heißt immer auch Problemwahl: Mit der Wahl für einen Menschen entscheidet man sich sowohl für seine positiven, als auch für seine weniger positiven Eigenschaften – idealerweise wird (ganz im Sinne Otto Flakes) dennoch der ganze Mensch bejaht. Manchmal müssen sich zwei Menschen eben erst „zusammenraufen“, um Schritt für Schritt zueinander zu finden. Damit eine Partnerschaft also funktioniert, sind Kompromisse unerlässlich. Dies setzt voraus, dass beide Partner von ihrer eigenen Position ein Stück weit abweichen. Wer dies akzeptiert, ist zu Beginn einer Partnerschaft eher dazu bereit, in diese zu investieren und auch bei Schwierigkeiten nicht so schnell aufzugeben. Doch wo liegt die Grenze zwischen förderlichen und geforderten Kompromissen? Und wie kann man sich sicher sein, dass man sich für das Wohl einer Beziehung nicht zu sehr verbiegt?
Gesunde Kompromisse werden in der Regel von beiden Partnern als fair, stimmig und gerecht erlebt. Dabei ist es wichtig, einen Wunsch des Partners nicht schon im Vorfeld abzulehnen, sondern jedem Anliegen seine Berechtigung zu geben. Dies fördert die Entstehung von Sympathie zwischen den Interaktionspartnern und gleichzeitig auch die Annäherung ihrer Einstellungen. Studien haben in diesem Zusammenhang ergeben, dass ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen mit einem höheren Maß an Kompromissbereitschaft einhergeht. Eine wertschätzende, zielgerichtete Kommunikation bildet hierbei die entscheidende Grundlage, d.h. man begegnet dem anderen entsprechend freundlich und erhält eine freundliche Antwort. Wer also dazu neigt, dem Partner positive Eigenschaften zuzuschreiben, wird sich ihm gegenüber entsprechend positiv verhalten; dieser wird im Gegenzug positiv antworten und so letztendlich den ursprünglichen Eindruck seiner positiven Eigenschaften bestätigen. Hierbei spielt auch der Attributionsstil eine besondere Rolle. Menschen, welche die negativen Eigenschaften ihres Partners auf externale und instabile Faktoren zurückführen, also auf situative Auslöser und/oder Fremdverschulden, positive Eigenschaften hingegen als stabile Charakterzüge des Partners wahrnehmen, berichten häufiger von positiven Partnerschaftserfahrungen, als Menschen, die genau andersherum attribuieren. Beziehungsförderliche Überzeugungen bilden also einen wichtigen Bestandteil im Erfolgsrezept positiver Beziehungen: zum Beispiel indem die Entstehung von Konflikten nicht nur dem Partner zugeschrieben wird, sondern man vielmehr auf die Fähigkeit zur gemeinsamen Problemlösung und das Entwicklungspotential der Beziehung vertraut. Unter diesen Bedingungen werden dann auch Meinungsverschiedenheiten als weniger dramatisch erlebt und aktuelle und künftige Schwierigkeiten als veränderbar gesehen. Dazu ist es jedoch wichtig, sowohl Ansprüche als auch Anforderungen an die Partnerschaft zu klären und zu prüfen ob sie realistisch sind und ob sie dem Wohl der Beziehung eher dienlich oder abträglich sind.
Wenn dann beide Partner, nach einem vereinbarten Kompromiss oder einer gemeinsamen Problemlösung, den Anderen nach wie vor achten und respektieren können und gleichzeitig das Gefühl haben, immer noch sie selbst zu sein, dann sind sie auf dem besten Weg zu einer harmonischen Beziehung. Eine Beziehung, die als Chance für ein gemeinsames Wachstum gesehen wird und durch die das „Wir“ einen höheren Stellenwert erhält. Unter besonders günstigen Bedingungen – wenn sich also beide Partner ihrer gegenseitigen Zuneigung absolut sicher sind – können dann sogar Unähnlichkeiten als reizvoll erlebt werden und eine Chance zur Erweiterung des eigenen Selbst darstellen. 

Mittwoch, 5. Januar 2011

Vertrauen ist gut, Kontrolle besser?

Die meisten Menschen wünschen sich nichts sehnlicher, als eine vertraute Person an ihrer Seite; eine Person, bei der sie sich sicher und geborgen fühlen und auf die sie sich verlassen können. Denn Vertrauen ist die wesentliche Komponente zwischenmenschlicher Beziehungen. Nur durch das Gefühl, sich der guten Absichten, der uneingeschränkten Loyalität und der absoluten Ehrlichkeit des Partners gewiss sein zu können, vermag eine neue Beziehung in die Phase tieferer Verbundenheit einzugehen. So nannten im Rahmen einer wissenschaftlichen Familienanalyse 70% der Befragten Treue als wichtigste Eigenschaft des idealen Partners und Vertrauen als wesentliche Rahmenbedingung für langfristige Partnerschaften. Ein vertrauensvoller Partner stellt auch eine Stütze dar, welche das eigene Handlungsfeld erweitert und das Sammeln neuer Erfahrungen ermöglicht. Der Vertrauensaufbau liegt nämlich einem rationalen psychologischen Prozess zugrunde: Ein komplexes soziales System, welches aus unbekannten, potentiell gefährlichen Einzelkomponenten besteht, wird durch vertraute Gewohnheiten in seiner Struktur vereinfacht. Vertrauen reguliert in diesem Sinne die soziale Wahrnehmung. Nur wenn nicht jedes Aufeinandertreffen zweier Menschen als Gefahrensituation interpretiert wird, ist es uns möglich, eine funktionierende Gesellschaft zu errichten und sozial (effizient) zu interagieren.
Vertrauen entwickelt sich auf der Basis früherer Erfahrungen. Dementsprechend ist Vertrauen ein erlerntes Verhalten, welches nicht schon zu Beginn einer Beziehung besteht, sondern sich erst allmählich einstellt. Nichtsdestotrotz ist auch der erste Eindruck einer Person, im Hinblick auf die Vertrauensbildung, ein nicht zu unterschätzender Faktor, da Sympathien bzw. Antipathien bereits im Anfangsstadium vertrauensfördernde bzw. -hemmende Prozesse auslösen können. Anders als das Selbstvertrauen, welches wir durch eigene Erfolge und ein positives Feedback aus der Umwelt entwickeln, entsteht das Fremdvertrauen, d.h. das Vertrauen gegenüber anderen Menschen, durch den Austausch einer Reihe von immer intensiveren Vertrauenshandlungen. Dies geschieht reziprok, d.h. im Sinne eines gegenseitigen Gebens und Nehmens: Menschen, die eine Vorleistung, d.h. eine vertrauensfördernde Verhaltensweise erbracht haben, erwarten vom Partner, dass er diese erwidert. Wenn die (oft auch unbewussten) Handlungsweisen – nach Ansicht der Akteure – gezeigt wurden, beständig waren und positive Konsequenzen nach sich zogen, können wir uns der Vertrauenswürdigkeit des jeweils Anderen subjektiv sicher sein. Subjektiv – denn Vertrauen ist stets mit einem gewissen Risiko verbunden. Vertrauenshandlungen sind immer auch risikoreiche Handlungen, welche eine Entscheidung entgegen der eigenen Kontrollmöglichkeiten implizieren. Vertrauen ist so gesehen zunächst einmal ein Wagnis, das durchaus vom Anderen enttäuscht werden kann.
Vertrauen kann auf vielerlei Weise missbraucht werden. In Partnerschaften handelt es sich hierbei meist um absichtsvolles Lügen und sexuelle Untreue. Durch das grenzenlose Kontaktangebot im Internet wird Fremdgehen nun auch auf das virtuelle Geschehen ausgeweitet und die Bewältigung von Cyberuntreue ist in Paartherapien mittlerweile ein wichtiges Thema. Die Barriere zwischen Loyalität und Untreue schwindet. Denn genauso wie der Vertrauensaufbau einer subjektiven Komponente unterliegt, wird auch der Vertrauensmissbrauch von Individuum zu Individuum unterschiedlich interpretiert. Während einige Paare bereits das (heimliche) Chatten mit virtuellen Flirtpartnern als Untreue interpretieren, ziehen andere Menschen die Grenze erst beim tatsächlichen sexuellen Akt des Partners mit einer dritten Person. Evolutionspsychologische Untersuchungen hierzu ergaben, dass Männer vor allem die sexuelle Untreue ihrer Partnerin als gravierenden Vertrauensbruch interpretieren, da sie sich dann ihrer biologischen Vaterschaft nicht sicher sein können. Im Gegensatz hierzu, beurteilen Frauen bereits die emotionale Untreue ihrer Partner als schwerwiegenden Fehltritt, da ein Weggang des Mannes die Versorgung ihres Kindes gefährden würde. Trotz der evolutionär-logischen Eifersuchtsstereotypen ist jeder Mensch und folglich jede Partnerschaft einzigartig. Authentische Gespräche über die jeweiligen Vorstellungen von Treue und Vertrauen sind in einer festen Partnerschaft daher unumgänglich, wobei auch die Lebensbereiche, die vom Partner jeweils nicht (mit)erlebt werden können, sprachlich erlebbar gemacht werden sollten. Dies stärkt die Bindung und schafft gegenseitiges Vertrauen. Eine Paarbeziehung ist schließlich ein gemeinsames Projekt, bei welchem beide Partner Inhalt und Richtung aushandeln.
Enttäuschtes oder gar missbrauchtes Vertrauen stellt eine schwere Belastungsprobe für jede Art von Beziehung dar. In Freundschaften, Familien, beruflichen Bündnissen und Liebespaaren kann missbrauchtes Vertrauen zu einer schweren Krise führen, welche das Fundament einer langjährigen Beziehung auf den Prüfstand stellt. Denn ein einmal missbrauchtes Vertrauen wiegt schwerer als viele Jahre der Treue und Loyalität. Wenn ein Partner untreu wurde, steigt subjektiv die Wahrscheinlichkeit, dass er auch in Zukunft entgegen des gemeinsamen Vertrauensabkommens handeln wird. Der betrogene Partner zweifelt plötzlich an seiner Fähigkeit, die Handlungsabsichten des Liebsten richtig einzuschätzen. Denn wer sich einmal irrt, kann immer wieder irren. Folglich wird nicht nur das Fremdvertrauen in den untreuen Partner, sondern auch das Selbstvertrauen in die eigene Menschenkenntnis erschüttert. Eine einst funktionierende, vertrauensvolle Beziehung wandelt sich wieder in ein komplexes und unberechenbares Zweiersystem.
Die menschlichen Reaktionen auf Untreue sind vielseitig. Nach Entdeckung oder Offenlegung einer Außenbeziehung, weisen viele Paare klinisch bedeutsame Ausprägungen von Depressionen, Belastungsreaktionen und/oder Ängsten auf. Untreue ist zudem einer der am häufigsten genannten Gründe für eine Trennung bzw. Scheidung. Auch das Partner-„Stalking“ – das Verfolgen und Nachspionieren des Anderen aus Eifersuchtsmotiven – ist eine häufige Reaktionsform. Hierbei werden Telefonanrufe belauscht, liegengelassene Handys hemmungslos nach verdächtigen SMSs durchforstet, private E-Mails gelesen und die Partner mit verzweifelten Telefonanrufen überwacht. Als Selbstschutz, lautet die entschuldigende Rechtfertigung. Schließlich gilt es, verlorene Kontrollmöglichkeiten zurückzuerlangen. Ein Schuss in den Ofen. Denn wie kann man Offenheit vom Partner erwarten, wenn man selbst heimlich hinter seinem Rücken agiert?
Wie schon zu Beginn des Vertrauensaufbaus, so sind auch in der Beziehungskrise authentische Gespräche hilfreich für den Fortbestand der Partnerschaft. In der klärenden Auseinandersetzung werden die Karten neu gemischt, und gemeinschaftlich neue Spielregeln festgelegt. Durch offene und bewusste Vertrauenshandlungen wird der Partnerschaft ein neues Gerüst erbaut. Dieser Vorgang ist als ein langer Prozess zu sehen, welcher gar Jahre in Anspruch nehmen kann und daher große Geduld voraussetzt.  Alle Karten auf das Vertrauen zu setzen ist sicherlich ein Risiko, doch ist es die einzige Gewinnchance, die sich uns bietet. Schließlich besteht ein klarer, bedeutungstragender Zusammenhang zwischen Treue und Vertrauen. Nur wer selbst respektvoll, offen und ehrlich innerhalb einer Partnerschaft agiert, kann – aufgrund der bereits erwähnten gesellschaftlichen Reziprozität („Wie Du mir, so ich Dir“) – auch mit Respekt, Offenheit und Ehrlichkeit belohnt werden.
Die Liebe ist eben wie ein Spiel, dessen komplexe Regeln wir wohl niemals ganz erlernen werden. Doch eines bleibt stets gewiss: Kontrolle ist nie gut. Vertrauen ist besser. Denn Eifersucht und Misstrauen haben seit jeher schon die meisten Beziehungen zerstört.

Sonntag, 2. Januar 2011

Spieglein, Spieglein an der Wand ...

Liftings, Brustimplantate, Nasen-OPs und nicht zuletzt das Bodybuilding – immer mehr Menschen erliegen dem Druck des modernen Körperkults. Fitnessstudios, Schönheitschirurgen und Kosmetikhersteller freuen sich über eine stetig zunehmende Anzahl neuer (rezeptiver) und fanatischer Kunden. Konsumiert wird alles, solange es nur irgendwie der Schönheit dient. Der eigene Leib wird dabei zum formbaren Rohmaterial, das je nach Modeerscheinung lebenslang bearbeitet werden muss. Doch ist die Auseinandersetzung mit Körper und Schönheit keine Erfindung des modernen Zeitgeists sondern vielmehr ein uraltes Geschehen, welches Frauen wie Männer seit jeher gleichermaßen bewegte. Blashäutig, braunhäutig, dünnbauchig, dickbauchig, bärtig oder kindlich – je nach kulturellem Kontext existierten für das weibliche und männliche Geschlecht bestimmte Schönheitsvorgaben, die sich im Laufe der Zeit ständig wandelten. Heutzutage sollte die moderne Frau sowohl schlank sein als auch weibliche Rundungen aufweisen; der moderne Mann sollte sich durchtrainiert und – selbstverständlich – unbehaart präsentieren.
Waschbrettbauch, Wunderpo und Muskelmasse – nicht zu vergessen, die stehenden, prallen Brüste und glatten Oberschenkel – sind dabei kleine Erfolge im heroischen Kampf, den vorbestimmten Verfall des eigenen Organismus kontrollieren zu wollen. Der Körper verkommt zu einem Prestigeobjekt, welches bestimmten Qualitätsstandards zu genügen hat. Menschen, die jenem Körperkult erlegen sind, nehmen den aktuellen Zustand ihres Körpers als das Resultat umgesetzter Willensanstrengungen wahr. Sie vertreten die Einstellung, dass Fortschritte nur unter hohem Einsatz, nach zahlreichen Rückschlägen und jenseits der Schmerzgrenze zu erreichen sind. Die Kraft, etwas Schwaches, Träges und Weiches in etwas Kräftiges, Hartes und Aktives modellieren zu können, oder der Ehrgeiz, Fettpölsterchen und Reiterhosen konsequent zu reduzieren, verschafft ihnen in ihrem Umfeld Anerkennung und soziales Ansehen. Wie nahe man der Perfektion dabei kommt, wird in der elitären Welt der Schönheitsfans als Maß des eigenen sozialen Status gesehen. Und die Mühen scheinen sich durchaus zu lohnen: Psychologische Untersuchungen zum Attraktivitätsstereotyp zeigen, dass physisch attraktiven Personen positivere Persönlichkeitseigenschaften zugeschrieben werden als unattraktiven Personen. Auch die Arbeitsleistung wohlgeformter Mitarbeiter wird durchweg erfolgreicher eingeschätzt als die weniger attraktiver Kollegen. Schönheit zieht.
Um jedoch auf dem harten Schönheitsmarkt neben anderen Bodykonkurrenten bestehen zu können, bemühen sich insbesondere Frauen darum, auch noch die absurdesten Schönheitsnormen einzuhalten, was meist mit sehr großen Einschränkungen – aber auch mit Schmerzen, Schweiß und Kosten verbunden ist. Ein Teufelskreis. Denn mit der Sehnsucht nach der optimalen und daher makellosen Gestaltung des Körpers – die nie zu erreichen und stets verbesserungswürdig ist – gelangt man schnell an die Grenze der menschlichen Machbarkeit: Es existiert kein Körperteil und keine Partie am gesamten Körper, die ganz ohne Makel wäre – alles kann man noch verschönern. Das Idealbild vom „schönen” Körper wird zur fixen Idee und zur Obsession. Die Folge: Die Körperformer werden stets aufs Neue mit der eigenen (natürlichen) Inkompetenz konfrontiert und entdecken schamhaft ihre physischen Unzulänglichkeiten. Ihre, an der Norm perfekter Körper orientierten Selbstwerte, geraten ins Wanken. Hin- und hergerissen zwischen Eitelkeit und Selbstvorwürfen, zwischen Geltungsdrang und Unsicherheit, obliegen die beaus einer recht ambivalenten Natur.
Das radikale Streben nach Schönheit und Anerkennung und das Scheitern an den Grenzen der menschlichen Natur, kann in diesem Zusammenhang auch mit einer diffusen sozialen Neigung einhergehen. Denn Schönheit beschränkt sich nicht allein auf die Bewertung der körperlichen Physiognomie. Hinter dem materiellen Körper verbirgt sich stets auch ein sozialer Körper als Träger der Symbole und Elemente der Gesellschaft. Ich bin, wie ich aussehe – so die Überzeugung der Körperästhetiker. Folglich entsteht aus der Angst um das labile Ich ein Selbstschutz gegenüber tiefen zwischenmenschlichen Beziehungen. Denn aus der Nähe kann auch Botox die ersten Fältchen nicht mehr verdecken und die Furcht vor Kritik wäre allgegenwärtig.
Andererseits ist den Bodypimpern ein zurückhaltendes oder scheues Auftreten fremd, denn die soziale Isolation wäre dem eigenen Bestreben vollkommen abträglich. Schön sein möchte man nämlich nicht nur in den eigenen – sondern auch in den Augen anderer Menschen. Dementsprechend sucht die Schönheitselite gezielt den Kontakt zu normalen Alltagsmenschen: Vor ihnen gilt es sich zu präsentieren, um als wunderschön und begehrenswert bestätigt und beneidet zu werden. Das Publikum wird dabei zum empathischen Selbstobjekt und dient der Verbesserung des (labilen) Selbstwerts.  
Durch die ständige Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen wandeln sich jedoch auch die (sozialen) Prioritäten der Somatophilen. Eine tiefgehende Partnerschaft wird nicht mehr benötigt, denn Verliebtheit ist nur noch die Verliebtheit in das eigene idealisierte Abbild. Gesucht wird im Gegenüber das benötigte Spiegelbild und nicht etwa der andere Mensch. Der eigene Körper ist nämlich das wesentliche, gar einzige Liebesobjekt. Auch das Aussenden sexueller Signale dient wohl nur dem Zweck, Bestätigung zu erhalten und nicht der Hoffnung, tatsächlich einen Geschlechtspartner zu finden. Denn das Streben nach Schönheit gilt nicht nur ästhetischen Motiven, sondern auch ideellen Einstellungen, wie Willensstärke und Selbstdisziplin. Stets arbeitet der Körperbildner daran, seinen Körper einem ästhetischen Idealbild anzupassen und versucht damit auch eine entschlossene geistige Einstellung auszudrücken. Die einseitigen Gewohnheiten alltäglicher Körperrituale (wie Sexualität) können seine physischen und psychischen Sehnsüchte daher keineswegs voll befriedigen. Ins Zentrum des Bewusstseins rückt vielmehr die Zuneigung zur eigenen Wohlgeformtheit, das Spielen mit dem eigenen Körper, welcher – auf unbestimmte Zeit – leider das einzige Liebesobjekt ist und bleibt.